In unserem Leben gibt es einen großen Schatz an Lebenserfahrung, auf den wir leider nur selten zurückgreifen: unsere Großeltern. Sie sind unsere Wurzeln und führen uns vor Augen, auf was es im Leben wirklich ankommt. Zeit ihnen die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie wirklich verdienen.
Dinge tun dürfen, die Mama und Papa normalerweise nicht erlauben, das ermöglichen Großeltern. Ich erinnere mich gerne daran, wie ich damals von meiner Oma verwöhnt wurde. Gab es Suppe, aber ich hatte Lust auf Hefeklöße, konnte ich mir sicher sein, dass auf meinem Teller nichts flüssiges zu finden sein wird. Großeltern waren für mich diejenigen, bei denen die Zügel etwas lockerer saßen. Als Kind ist es selbstverständlich regelmäßig mit den Großeltern zu tun zu haben. Ostereier suchen, ein schickes Weihnachtsgeschenk abstauben, Oma und Opa werden in jungen Jahren eher als eine “Geschenke-Maschine” wahrgenommen, die die Wünsche erfüllt, die von unseren Eltern wohlwollend ignoriert werden. Meine Großeltern waren für mich da, wenn ich sie brauchte. Dass sie, je älter ich wurde, noch an Bedeutung gewinnen würden, ahnte ich nicht. Sie verschwanden mit den Jahren immer mehr aus meinem Sichtfeld. Abgesehen von Weihnachten und Ostern, hörten wir nicht mehr viel voneinander. Und das war okay für mich. Ihr Leben hatte so ziemlich gar nichts mit meinem zu tun. Was interessierten mich Koch- und Backrezepte, wenn ich gerade lieber ein gutes Cocktailrezept gehabt hätte. Dabei ist es so wichtig, einen intensiven Kontakt zu halten.
Ich bemerkte, wie ähnlich wir uns doch waren
“Sag mal Oma, wie hast du den Opa eigentlich damals kennengelernt?”, fragte ich meine Großmutter, als wir zusammen am Kaffeetisch saßen. Es folgte eine emotionale Liebesgeschichte mit allen Höhen und Tiefen, die man sich nur vorstellen kann. Ich bemerkte, wie ähnlich wir uns doch waren, meine Omi und ich. Trotzdem sie über 50 Jahre älter ist, haben wir dieselben Lebensphasen durchschritten. Warum hatte ich ihr nicht schon früher Löcher in den Bauch gefragt? Vielleicht hätte sie mir den einen entscheidenden Tipp gegeben, der mich vor manchem Leid bewahrt hätte. Das ist das Traurige an Großeltern-Enkel Beziehungen: Sie werden erst so richtig wichtig, wenn es eigentlich zu spät ist. Aber warum ist das so?
“Man kann die Dinge nicht aufschreiben, die das Ergebnis am Ende so perfekt machen.”
Ich war in jüngeren Jahren einfach nicht in der Lage Ratschläge Älterer anzunehmen. Die haben doch keine Ahnung, was gerade in mir vorgeht, dachte ich. Jetzt merke ich, wie mir so langsam die Zeit davon läuft. “Ich war vor einigen Wochen einen ganzen Tag mit Omi backen.”, erzählte mir mein Cousin, während wir vom Kuchen nach Großeltern-Rezept naschten. Er riet mir, es ihm zeitnah gleich zu tun. “Rezepte bringen dir da gar nichts. Man kann die Dinge nicht aufschreiben, die das Ergebnis am Ende so perfekt machen.”, ergänzte er. Wie recht er hatte.
Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn plötzlich das Erbe verteilt wird
Wie empfanden es eigentlich meine Großeltern, dass ihre Weisheit bis jetzt gar nicht so richtig wahrgenommen wurde? Sie hätte sich schon gewünscht, dass ich öfter nach ihrer Sicht auf die Dinge gefragt hätte, gesteht meine Großmutter. Doch als ich sie daran erinnerte, wie viele Jahre ich um ihr Spezial-Lebkuchen-Rezept betteln musste, wurde sie nachdenklich. Sich alt zu fühlen, das war eine mögliche Konsequenz daraus, wenn man beginnt Dinge weiterzugeben. Es ist doch ein schlechtes Zeichen, wenn Menschen in ihrem Alter plötzlich anfangen das Erbe zu verteilen, das hat so etwas von “bald gibt es mich nicht mehr”, meinte meine Omi. Sie hatte recht. Als ich vor zwei Jahren endlich mein heiß ersehntes Lebkuchen-Rezept in den Händen hielt, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass irgendwann der Moment kommen wird, an dem ich nicht mal eben schnell zum Telefonhörer greifen kann, wenn mir die Backzeit meiner Lieblingsnascherei entfallen ist.
Der Gedanke an ein Ende beängstigt mich
Bis vor kurzem dachte ich, dass alles im Leben so bleiben würde, wie es ist, für mindestens die nächsten 10 Jahre. Der Gedanke, dass meine Großeltern eines Morgens einfach nicht mehr aufwachen könnten, erschien mir fremd. Was wäre eigentlich, wenn sie nicht mehr da sind, fragte ich mich. Plötzlich bekam ich es mit der Angst zu tun. Wer streicht mir bei Familienfeiern liebevoll über den Rücken und strahlt mich in vollster Lebensfreude an? Wer schickt mir zu Weihnachten meine Lieblingslebkuchen, weil ich keine Zeit zum selbst backen habe? Und wer beantwortet mir brennende Lebensfragen, für die sogar meine Eltern zu jung sind? Das können nur Großeltern. Sie betrachten uns mit wohltuenden Augen, die mehr erkennen als das, was wir gerne ausstrahlen würden. Sie sehen unsere Wurzeln, die wir manchmal verloren zu haben scheinen. Sie sind weit genug von uns weg und trotzdem nah genug dran, um uns in die richtige Richtung zu lenken.
Ich hätte intensiver zuhören sollen
Ich hätte öfter einen Spaziergang mit den Familienältesten wagen sollen, anstatt vor meinem Computer zu sitzen. Ich hätte intensiver zuhören sollen, als sie mir von ihrem Leben berichteten. Es macht mich traurig, dass ich erst jetzt erkenne, welch großes Glück es ist, Großeltern zu haben. Die Zeit die wir mit ihnen haben, sollten wir nutzen, sei sie auch noch so kurz. Wir sollten ihnen Löcher in den Bauch fragen, alle alten Familienrezepte aufschreiben und dafür sorgen, dass sich ihre Lebenserfahrung durch die kommenden Generationen trägt.