LADS – das neue „Beziehungsunfähig“? Ständig von Liebschaft zu Liebschaft zu springen, ist nicht nur für die wechselnden Lover unangenehm, sondern auch für den LADS-Betroffenen. Hat schon einmal jemand daran gedacht, dass es keinen sonderlichen Spaß macht, das Interesse nicht halten zu können? Mehr dazu gibt es auf beziehungsweise-Magazin.de
Schlagwort: Liebe
Gastbeitrag: Tinder und Kapitalismus
Es ist mir eine große Freude, heute einen Beitrag meines besten Freundes veröffentlichen zu dürfen. Moritz Kirchner ist Diplom-Psychologe und hat kürzlich seine Doktorarbeit in Politischer Theorie zum Thema „Der neueste Geist des Kapitalismus“ fertig geschrieben. Dieser Text berührt einen Nebenaspekt dieser Arbeit.
Abstract: Oberflächlich betrachtet ist Tinder eine Flirt-App, welche durchschlagenden Erfolg hat und welche weltweit zu mehr zwischenmenschlichen Kontakten und Sexualität führt. Bei tieferem Hinsehen ist Tinder hingegen ein konsequentes Produkt des Kapitalismus, seiner Beschleunigungs- und Konsumtionsideologie. Tinder zeigt exemplarisch die Widersprüche der Selbstverwirklichung auf, sowie die Gefahr der Inkorporierung dieser Idee durch neoliberale Ideologie. Die Technologie Tinder selbst ist der konsequentest-mögliche Ausdruck des kapitalistischen Zeitgeistes, wirkt aber auch auf diesen zurück.
Tinder: Eine App revolutioniert das Flirten
Tinder ist eine Flirt-App, welche 2012 an der University of Southern California entwickelt wurde. Gekoppelt mit dem Facebook-Profil, können die (überwiegend jungen) NutzerInnen die Profile anderer Menschen betrachten, und in Sekundenschnelle das Bild nach links „wischen“ und damit keinen Kontaktwunsch anzeigen, oder nach rechts, und damit ein „like“ des Profils, welches ihnen präsentiert wurde. Es besteht auch die Möglichkeit, einige Worte zu sich selbst zu schreiben. Jedoch findet die Bewertung eher anhand der Bilder statt, welche bei Tinder eingestellt sind, und dies oft in weniger als einer Sekunde.
Erst, wenn zwei Menschen ihr Profil gegenseitig positiv bewertet haben, entstand ein „Match“, das heißt, beide Personen können miteinander chatten. Zudem kann jede/r so genannte Entdeckungs-Präferenzen einstellen, so das Geschlecht oder das anvisierte Alter. Ebenso sucht Tinder jeweils im Umkreis des jeweiligen Aufenthaltsortes, was die App gerade auch bei Touristen berühmt macht. Die App selbst ist berüchtigt dafür, dass sie insbesondere für die Anbahnung kurzfristiger sexueller Kontakte sehr effizient ist, weshalb sie in populärer Diktion auch als „Vögel-App“ bezeichnet wird. Tinder selbst hat eine Wirkmächtigkeit entfällt, dass es selbst Eingang in die Sprache fand. So widmete sich die Zeitschrift NEON in der vierten Ausgabe dieses Jahres der „Tinder-Gesellschaft“. Tinder hat dem Tanz um die Lust (Schirach: 2007) eine neue, teils globale Dimension gegeben.
Technologien der Liebe: Eine transhistorische Konstante
Natürlich hat es bereits vor Tinder diverse Plattformen, Institutionen und Technologien der Liebe (emotional wie erotisch) gegeben (vgl. Foucault: 1989). Schon in der Antike gab es bacchische Orgien, später das höfische Leben mit besonderen Ritualen des Kennenlernens, den Annoncen in den Zeitungen zu heutigen Online-Plattformen. Auch hier finden sich einige besondere, wie Elite Partner, welche den Versuch unternehmen, die Partnerwahl statistisch zu optimieren. Ein Algorithmus der Liebe als konsequente Negation der Romantik. Auch generieren gängige Plattformen wie Facebook und XING gerne den Kollateralnutzen des Balzens. Und auch an Flirt-Plattformen herrscht kein Mangel, wie Lovoo oder jüngst Willow, welches als Anti-Tinder konsequent auf Inhalte setzt und erst später Bilder freischaltet.
An Plattformen des Amourösen herrscht kein Mangel, und es hat sie immer gegeben. Sie unterliegen kultureller und technologischer Evolution. Vor allem hat sich durch sie die Kontaktfähigkeit deutlich erhöht. Dennoch haben sie es zum Beispiel nicht vermocht, die Tendenzen zur Homogamie (vgl. Bourdieu: 2007), also zur Partnerwahl innerhalb der eigenen Schicht oder des eigenen Milieus zu durchbrechen. Tinder ist die derzeit wohl wichtigste Flirt-App, und sie ist, wie zu zeigen wird, paradigmatisch. Denn einerseits steht Tinder in einer langen Tradition. Andererseits radikalisiert Tinder im Einklang mit dem Zeitgeist das Flirten.
Was macht Tinder besonders?
Tinder ist die konsequente Negation der Grundideen der Romantik, und ihrer eher konservativen Moralität (vgl. Richter: 2013). Es geht nicht um ein langsames, vorsichtiges Kennenlernen, um Innerlichkeit und Persönlichkeit, um Vorsicht und eine auf tiefer Emotionalität und Bindung basierender Form von Liebe. Stattdessen geht es um ein schnelles und effizientes Kennenlernen. Tinder ist der technologische Ausdruck der allgemeinen Beschleunigung (Rosa: 2005) im sozialen Feld der Liebe.
Im absoluten Vordergrund stehen die Bilder der Personen. Die meisten Entscheidungen werden rein über die Optik bzw. die visuelle Inszenierung getroffen. Es ist ein in seiner Visualität tatsächlich eindimensionaler Mensch (vgl. Marcuse: 2014), welcher hier in kürzester Zeit bewertet wird. Bei nicht wenigen Teilnehmenden gibt es keinerlei Text, und sofern es ihn gibt ist er oft nur bedingt aussagefähig. Tinder entspricht dem postulierten pictorial turn in hervorragender Weise. Dadurch findet eine starke Reduktion der Beurteilung einer Person auf ihre Optik, eine bestimmte Form der Objektivierung statt, und dies ist auf keine Geschlechtlichkeit begrenzt. Die visuelle Übereinstimmung ist die Voraussetzung für Konversation. Tinder stellt folglich eine Subjektivierung durch Objektivierung (vgl. Bröckling 2007: 19) dar, mit den Verheißungen von Liebe, Nähe und Sex.
Es geht, mindestens in der ersten Stufe, überhaupt nicht um Persönlichkeit, Charakter, Inhalt oder Tiefe, also das, was klassischerweise mit Liebenswürdigkeit verbunden wird (vgl. Fromm: 1956). Es geht lediglich um Form, darum, ein Angebot zu schaffen, welches es zu „liken“ gilt. Das visuelle Angebot soll die Aufmerksamkeit (vgl. Schroer: 2014) anderer Menschen auf sich ziehen. All dies wiederum vollzieht sich, und das ist wohl ebenfalls das besondere an Tinder, in rasender Geschwindigkeit. Es ist möglich, innerhalb einer Minute bis zu 100 Menschen auf ihre potenzielle Partnerschaftsfähigkeit durch entsprechendes „wischen“ zu beurteilen. Das Urteil muss folglich, im Wortsinne, oberflächlich sein. Und Tinder zeigt paradigmatisch den engen Zusammenhang zwischen Beschleunigung und Entfremdung (vgl. Rosa: 2013). „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“ wird hiermit maximal negiert. Und es findet lediglich schnelles Denken (vgl. Kahneman: 2014) statt, wenn überhaupt. Tinder ist also in seiner Visualität, seiner Geschwindigkeit und seiner umfassenden Verbreitung derzeit wohl die Avantgarde der Flirt-Apps.
Tinder und Ethizität
Auch wenn es von vielen Nutzenden so sicher nicht reflektiert wird, so ist Tinder doch in mehrerer Hinsicht ethisch hochproblematisch, obgleich es sicher nicht in allen ethischen Schulen zu negieren ist. Eines aber lässt sich klar sagen: Aus Kantischer Sicht ist Tinder ganz sicher eine Katastrophe. Erstens verstößt es klar gegen das Instrumentalisierungsverbot (Pauer-Studer 2007: 39ff.; Kant: 1990), welches besagt, dass Menschen niemals Mittel, sondern stets Zweck sein sollen. Dadurch, dass ich nur ein Imago der Person bekomme, und dann projiziere, wie diese Person meine eigenen Bedürfnisse befriedigen kann, findet eine sehr starke Reduktion des Menschen statt. Aber auch ein kategorischer Imperativ ist schwerlich ableitbar, wäre doch eine Gesellschaft, die komplett tinderisiert wäre, wohl sehr oberflächlich, fragil und bindungslos. Schon jetzt führt Tinder zur Erosion bestehender Beziehungen, da Menschen in festen und als monogam definierten Partnerschaften erfahren, dass die andere Person sich bei Tinder angemeldet hat, was nahezu automatisch zu Projektionen des Fremdgehens führt.
Auch tugendethisch (vgl. Sandel: 2013; Aristoteles: 2010) ist Tinder klar abzulehnen. Denn die Kardinaltugenden werden nicht unbedingt befördert, und insbesondere die gefordete Mäßigung (Hegel 1986: 116) konterkariert. Auch entspricht ein Wischen aus der Distanz sicher nicht der Tapferkeit, welche ein realer Flirt bedarf, welcher immer auch ein Verletzungspotenzial birgt. Die immanente Ungerechtigkeit Tinders wird später noch beleuchtet werden. Aber Tinder führt auch nicht zur Ausbildung der Vernunft, wie die Tugendethik es fordert. Eher schon fördert es Entscheidungen des Stammhirns und kein bewußtes Nachdenken über andere Personen (vgl. Petty/Cacioppo: 1982). Auch die in Tinder implizierte Option zur Oligogamie oder Polygamie ist tugendethisch nur bedingt zu begrüßen.
Aus der Sicht kontraktualistischer Ethik (vgl. Hobbes: 1992) ist Tinder hingegen unproblematisch. Die Akteure wussten bei der Anmeldung, worauf sie sich anlassen, und Tinder verspricht auch nur Optionen. Zwar verändert Tinder den sozialen Kontrakt, weil es bei vielen Menschen die Potenzialität des Flirts eröffnet. Vor allem verändert es den impliziten Kontrakt, wenn man bekannte Menschen bei Tinder sieht, da sie fortan stärker unter der Perspektive des Flirts betrachtet werden. Insgesamt ist Tinder dennoch kontraktualistisch unproblematisch.
Viel interessanter ist hingegen die Betrachtung von Tinder aus utilitaristischer Perspektive (vgl. Mill: 2006). Denn in der Tat ermöglicht Tinder eine Freude, welche so vorher vielleicht nicht gegeben wäre, bahnt es doch Kontakte an, welche es im realen Leben nicht geben würde. Insofern kann es auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu einer positiven Affektbilanz führen. Generiertes Leid hingegen ist eher langfristig und indirekt erkennbar (wenngleich vorhanden im Sinne verstärkter Oberflächlichkeit und Humankonsumtion). Gerade aus präferenz-utilitaristischer Perspektive (Singer: 2013) ist es nahezu ideal, können doch genau diejenigen, welche starke hedonistische Präferenzen haben, diese durch Tinder gut realisieren und ausleben können. Und dadurch, dass zumindest direkt niemand gezwungen ist sich anzumelden, werden auch die Präferenzen anderer nicht verletzt. Tinder ist der konsequente Ausdruck einer utilitarisch-hedonistischen Ethik, eine technologisch verwirklichte „Erlebnisgesellschaft“ (Mutz/Kämpfer: 2013). Damit entspricht es in seiner immanenten Ethizität, wie zu zeigen sein wird, genau dem kapitalistischen Zeitgeist.
Die Kapitalismuskompatibilität von Tinder
Der Utilitarismus, welcher Tinder auszeichnet, ist in vielerlei Hinsicht kompatibel mit kapitalistischer Ideologie, mit dem kapitalistischen Geist (vgl. Weber: 2010). Nicht zufällig sind sehr viele Kapitalisten in der Geschichte klare Utilitaristen gewesen, wie der Pionier der wissenschaftlichen Betriebsführung Frederick Taylor, oder Henry Ford (Greif 2007: 27). Im Kapitalismus werden Dinge und Menschen wesentlich anhand ihrer Nützlichkeit beurteilt, welche dann ihren Tauschwert (Marx: 1973) und damit ihren Marktwert ergeben. Von ihren Eigenheiten und Besonderheiten wird abgesehen, und es geht lediglich um ihre Warenförmigkeit, um ihre Möglichkeit, als Angebot zu fungieren.
Das Kommunistische Manifest hat es in unnachahmlicher Weise, und, für Tinder nahezu prophetisch, zum Ausdruck gebracht:
„Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ (Marx/Engels 1972: 465).
Eben genau das ist das, was passiert. Mit nüchternen Augen werden Fotos von Menschen betrachtet und es wird gewischt. Tradierte Bindungen, Ideale langer Partnerschaft werden auf das kurze Erlebnis gebracht und reduziert. In genau diesem Sinne widerspricht Tinder dem christlichen Ideal der Partnerschaft zutiefst (Bossuet: 2003). Stattdessen schafft es einerseits ein breites Angebot an potenziellen PartnerInnen, und befriedigt natürlich auch eine entsprechende Nachfrage. Vor allem schafft es dies umfassend und zeitnah. Tinder sorgt dafür, dass immer mehr Menschen sich auf dem Beziehungsmarkt anbieten. Durch ihre Attraktivität, welche sie genau wie eine andere Ware aufweisen müssen, generieren sie dann Tauschwert (Marx: 1977), nämlich die Einschätzung der Wertigkeit, sich mit ihnen auszutauschen.
Tinder bezieht, genau wie Facebook, auch seine Attraktivität daraus, dass es permanent expandiert. Genau darin gleicht es dem Kapitalismus, der zu seiner Vitalität beständig wachsen muss (Marx: 1978). Denn es geht ja gerade darum, immer mehr Menschen kennenlernen zu können, eine immer größere Verfügbarkeit möglicher PartnerInnen zu haben. Tinder bedient genau diese exponentielle Steigerungslogik, insbesondere in der Konsumtion, welche insbesondere den zeitgenössischen Kapitalismus auszeichnet (vgl. Welzer: 2013).
Aber auch die Zeitlichkeit Tinders sorgt für dessen besondere kapitalistische Kompatibilität. Denn wenn Waren immer schneller zirkulieren, können auch in immer schnellerer Zeit Gewinne, im Falle von Tinder Erlebnisgewinne, generiert werden, was Stockungen vermeidet. Die Beschleunigung der Zirkulation ist daher ein urkapitalistischer Antrieb (Marx: 1977b). Daher sind auch alle Beziehungen innerhalb der Welt dieser Beschleunigung ausgesetzt, da dieses ökonomische Prinzip bis in den letzten privaten Bereich hineinstrahlt (Rosa: 2012), und damit eben auch in die Partnerwahl. Dieser Befund wird noch einmal dadurch verstärkt, als dass in einer Dienstleistungsgesellschaft die Wertschöpfung zunehmend zwischen Menschen stattfindet (Heuser: 2008). Daher ist eine Beschleunigung der zwischenmenschlichen Beziehungen, wie gerade Tinder sie produziert, nur konsequent. Denn keine andere Technologie ermöglicht so viele Interaktionen und Impressionen in so kurzer Zeit, wie Tinder es tut.
Tinder und sexuell-amouröse Verteilungsgerechtigkeit
Tinder ist auch aus distributiver Sicht keine unschuldige Technologie, und sie führt mittel- bis langfristig wohl nicht zu ihrem immanenten Glücksversprechen. Denn was durch Tinder passiert, ist dass die Erreichbarkeit des bzw. der Einzelnen drastisch gesteigert wird. Dadurch, dass die Bilder hintereinander weg gezeigt werden, findet natürlich auch ein Vergleich statt. Innerhalb dieses Vergleichs kommt es dann entsprechend auf die Optik (und ein Stück weit auch auf fotografische oder Photoshop-Fähigkeiten) an. Dies wiederum sorgt dafür, dass besonders attraktive Menschen, welche auch schon in der Offline-Welt Startvorteile des Flirtens genießen (vgl. Buss: 2004), hier besonders viel Zustimmung, und somit besonders viele Matches (eigene „likes“ vorausgesetzt) bekommen werden, während weniger attraktive Menschen dieses auch noch gespiegelt bekommen, indem sie keine oder nur wenige Matches generieren. Matches als Voraussetzung für Dates sorgen also dafür, dass wesentlich anhand einer Dimension des Menschen dessen amouröse und reproduktive Chancen exponentiell gesteigert werden. Tinder also führt, wie das Internet insgesamt, verstärkt zu „the-winner-takes-it-all“ Märkten (Brynjolfsson/McAfee: 2014; Lutter: 2013) da bei einer Verfügbarkeit aller Anbieter und Optimierung als postmodernem Imperativ eben die bestaussehendsten besonders viel Gewinn bzw. matches generieren, während für andere aufgrund des direkten Vergleiches eher wenig verbleibt. Denn das interessante bei Tinder ist nicht nur, welche Dates zustande kommen, sondern auch, welche nicht zustande kommen, eben aufgrund der strukturell bedingten Attraktivitätsreduktion.
Tinder sorgt, analog zum Neoliberalismus in der Wirtschaftspolitik, für eine weitere emotional-moralische Deregulierung, da es qua Existenz und Verfügbarkeit signalisiert, dass es völlig in Ordnung und akzeptiert sowie weit verbreitet ist, sich auf dem Beziehungsmarkt anzubieten. Diese sozio-moralische Deregulierung, sowie die ständige (zumindest indirekte) Verfügbarkeit potenzieller (Sexual-)Partner_innen sorgt dann natürlich auch für gestiegene Ansprüche an bestehende Beziehungen und setzt diese damit unter strukturellen Optimierungsdruck. Wobei fairerweise dazu gesagt werden muss, dass dies nicht nur Tinder tut, sondern das gesamte Optimierungsnarrativ (Günther: 2013) samt all seiner kulturellen Manifestationen und Technologien. Dennoch ist Tinder ein besonders exemplarischer Ausdruck dessen.
Nun ließe sich natürlich einwenden, dass Verteilungsgerechtigkeit (vgl. Wehler: 2013) überhaupt kein relevantes Kriterium ist, an dem sich Tinder messen lassen muss. Ebenso ist es auch schwierig, von emotionaler oder sexueller Verteilungsgerechtigkeit zu sprechen, da die Wünsche und Erwartungen sehr unterschiedlich sind (obgleich jedoch generalisiert werden kann, dass die Abwesenheit von geliebt werden und Sexualität als negativ erlebt wird; vgl. Heckhausen: 1989). Tinder negiert jedoch konsequentiell sein implizites utilitaristisches Glücksversprechen. Denn diejenigen, für die sich durch Tinder keinerlei neue Kontakte ergeben, werden eine Reduktion ihres Selbstwertes erleben (da sie nicht einmal mit technologischer Hilfe einen Menschen finden), während diejenigen, die sehr viele Kontakte und Erlebnisse durch Tinder generieren, hierbei einen abnehmenden Grenznutzen erfahren (vgl. Singer 2013: 56-57), denn das zusätzliche Glück vom 10. zum 11. Date ist keineswegs vergleichbar mit jenem de ersten Dates. Natürlich wird es auch Menschen geben, welche einige Dates und Erlebnisse haben, die sie sonst nicht hätten. Insgesamt aber ist sehr fraglich, ob Tinder überhaupt sein utilitaristisches Glücksversprechen einlösen kann. Und im Ergebnis führt Tinder eher zu dem, was mensch vom Kapitalismus bereits kennt: Wer hat, der oder dem wird gegeben. Wer nichts oder wenig hat, bekommt noch weniger.
Tinder und das urkapitalistische Leistungsmotiv
Durch Tinder werden nahezu Wettläufe um eine möglichst hohe Erlebnisdichte (Rosa 2005: 218), aber auch Wettläufe um interpersonelle Aufmerksamkeit (Schroer: 2014) und um möglichst viele Kontakte in einem Maße ermöglicht, wie es vorher nicht dagewesen ist. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa definiert dies wie folgt:
„Die Verknappung von Zeitressourcen aber führt notwendig und definitionsgemäß zu einer Erhöhung des Lebenstempos, d.h. zur Verdichtung von Handlungs- und Erlebnisepisoden unter der Erfahrung von Zeitdruck – der beschleunigte soziale Wandel ist daher eine mächtige Triebfeder der Beschleunigung des Lebenstempos“ (Rosa 2005: 250).
Tinder setzt bei nicht wenigen beteiligten Akteuren einen besonderen Wettlauf um möglichst viele Dates in Gang, eine multiple Kontaktierung, welche kaum Zeit lässt für Reflexion und Muße, und bei der durch Tinder generierte Begegnungen wesentlich den Takt angeben. Motivationspsychologisch liegt hier eine Verschiebung des Anschlussmotivs hin zum Leistungsmotiv vor (Rheinberg: 2002), und unter der Verheißung von Selbstverwirklichung und Freiheit wird auch das Freizeitverhalten weiter optimiert (vgl. Boltanski/Chiapello: 2006), und nicht selten bedarf es einer Taktung der vielen Dates, was den kapitalistischen Kollateralnutzen verbesserter Zeitmanagementfähigkeiten hat und eine Beschleunigung der Interaktionsformen nach sich zieht. Ebenso bedingt dies dann, dass man sich auf unterschiedlichste Menschen einstellen, sich selbst und seinen eigenen Marktwert präsentieren muss und sich verschiedensten Situationen anpassen muss. Ein nahezu unternehmerisches Selbst (Bröckling: 2007) des Amourösen entsteht bei denjenigen, die sich zu den Gewinnern von Tinder zählen dürfen, was ihnen wiederum Fähigkeiten vermittelt, mit denen sie im postindustriellen Kapitalismus (Mutz/Kämpfer: 2013) bestens reüssieren können.
Genau darin kann ein möglicher Umschlag von technischem Fortschritt in kulturelle Regression liegen (Adorno/Horkheimer: 1969). Angesichts der für eine behutsame Kontaktaufnahme zu schnelle Interaktion kann genau dies sein, nämlich dass nicht einmal mehr die Möglichkeit, wirklich Liebe aufbauen zu können, in dieser kapitalistischen Beschleunigung (Illouz: 2012) mehr möglich ist.
Tinder und Ideologiekritik
In unserer freiheitlichen Gesellschaft sind wir es inzwischen gewohnt, nicht mehr über Lebensentwürfe zu richten. Ein liberalistischer Standard, wesentlich im Gefolge der Säkularisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft (Luhmann: 1994) hat dazu geführt, dass es schwierig und verdächtig geworden ist, Werturteile zu treffen. Eine „ethische Enthaltsamkeit“ (Jaeggi 2014: 9) hat eingesetzt, welche jedoch auch an Grenzen stößt, wenn Grundwerte des Miteinanders berührt sind. Tinder verstärkt zum Beispiel die (bereits bestehende) Erosion zwischenmenschlicher Bindungen, führt zu verstärkten Objektivierungen und führt insgesamt zu einem Verlust an Ganzheitlichkeit, im Denken wie im Betrachten.
Denn was bei Tinder oft in keinster Weise mitbedacht wird, ist seine hochgradig ideologische Konfiguration (vgl. Zizek: 2008). Denn es folgt den Maximen, dass jede Möglichkeit auszuschöpfen ist, möglichst viel mitzunehmen ist und möglichst alles probiert werden muss. Tinder generiert, quasi automatisch, den perfekten Konsumenten für den Beziehungsmarkt. Hierzu stellt es nicht nur die technischen Mittel bereit, sondern es legt einem auch genau dies nahe. Die beschleunigte Technik führt zur kulturellen Affirmation der durch sie generierten Möglichkeiten (Rosa: 2005). Im Ergebnis entsteht eine vulgärhedonistische und humankonsumistische Ideologie, welche Menschen primär als Mittel der eigenen (teils im Wortsinne) Bedürfnisbefriedigung betrachtet.
Daher erscheint es lohnenswert, die lange verfemte Kategorie der Ideologiekritik (Jaeggi: 2013) auch auf Tinder anzuwenden. Denn nur wenn die unausgesprochenen Prämissen und Imperative, welche sich hinter Tinder verbergen, sichtbar gemacht werden, kann von einer reflektierten Praxis mit dieser App ausgegangen werden. Moderne Ideologiekritik macht genau dies, sie verhält sich aber auch kritisch gegenüber dem faktischen Unterworfensein in Imperative des Genießens und Auskostens, wie sie der zeitgenössische Kapitalismus nicht selten bereithält (Zizek: 2008b).
Allerdings soll hier nicht, wie in der Kritischen Theorie nicht selten üblich, den Nutzenden von Tinder ein „falsches Bewußtsein“ (vgl. Rosa 2009: 90) unterstellt werden.
Ideologiekritik ist wesentlich eine Kritik sozialer Praktiken (Stahl: 2013), wie Tinder eine darstellt bzw. bereithält. In die Praxis von Tinder sind Reduktionen eingebaut, welche irgendwann als selbstverständlich verstanden werden. So schreiben einige NutzerInnen (insbesondere Frauen) inzwischen in ihre Profile, dass sie „keine ons“ (One-Night-Stands) haben wollen. Durch sie sexualisierte Konnotation von Tinder wird bei anderen relativ automatisch zumindest die Suggestion der potenziellen sexuellen Verfügbarkeit generiert. Dies wiederum kann zu kognitiven, aber auch verhaltensbezogenen Sexismen führen, welche es ohne Tinder so nicht gegeben hätte.
Epilog: Es ist dennoch an Tinder nicht alles schlecht
Ein populärer zeitgenössischer Slogan und zugleich eine Gesellschaftsdiagnose trägt den folgenden Titel: „Oversexed and Underfucked“ (Osswald-Rinner: 2011). Hierzu passt Tinder hervorragend, schafft es doch Möglichkeiten, die sich allerdings nicht in Realisationen umsetzen müssen. Jedoch führt es zu einer Erotisierung des Diskurses, wie auch der Interaktion, da Tinders Telos genau hier angesiedelt ist.
Es sollte hier nicht um eine Fundamentalkritik an Tinder gehen, um eine komplette Negation oder gar einen Boykottaufruf. Allerdings sollten, gerade bei unreflektierter Nutzung von Tinder, dessen Implikationen klar aufgezeigt werden. Denn in der Tat bedingt eine gesamtgesellschaftliche Reflexion der Folgen von Tinder bei seiner Nutzung eine permanente kognitive Dissonanz (vgl. Festinger: 1957).
Natürlich ist Tinder gerade für schüchterne Menschen eine besondere Erleichterung. Wenn Menschen es im real-life nicht schaffen, eine Person anzusprechen, oder im Ernstfall des dates weitergehende Absichten zum Ausdruck zu bringen oder in Handlungen umsetzen zu können, so kann die erotische Grundierung von Tinder hier sehr behilflich sein. Und natürlich war es Ausgangspunkt für sehr viele selbstbestimmte soziale Beziehungen diverser Spielarten. Und in einer freiheitlicher verfassten Gesellschaft sind natürlich auch Technologien nicht grundsätzlich abzulehnen, welche einen ambivalenten sittlichen Gehalt aufweisen. Ebenso sorgt Tinder, wie das gesamte Internet, dafür, dass Menschen sich treffen, die sich ansonsten im normalen Lebensvollzug nie begegnet wären, was grundsätzlich sehr begrüßenswert ist, schafft es doch neue soziale Relationen.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass Tinder in starkem Maße einer Selbstoptimierungslogik folgt, einer Selbstverwirklichung durch Fremdverwirklichung, wie sie beispielhaft in BWL-Lehrbüchern stehen könnte. Es sorgt für eine Promotion der Visualität zulasten der Elaboration der Charakterlichkeit, und reduziert damit auch eine Innerlichkeit, welche klassisch mit Liebe assoziiert ist. Kurzfristig und für nicht wenige Menschen ist es sicher eine sinnvolle und hilfreiche Technologie. Allerdings ist seine fragwürdige Ethizität, seine kapitalistische Kompatibilität und seine langfristige gesellschaftliche Wirkung stets mit zu reflektieren.
Geschrieben von Moritz Kirchner, Diplom-Psychologe
Beziehungsweise – Das Buch für mehr Liebe
Endlich ist sie da, die Vorschau auf das beziehungweise-magazin.de Buch, das Buch für mehr Liebe. Und ich bin mit dabei. Wer den ein oder anderen Text aus meiner Feder auf Papier lesen möchte, sollte hier ab 01.02.2017 zugreifen. Absolut zu empfehen.
Leidest du unter LADS? – Mach den Test
LADS – Das Liebesaufmerksamkeitsdefizit-Syndrom verbreitet sich gerade wie eine Erkältung.
Ständig höre ich, dass die neue Ausprägung der Beziehungsunfähigkeit zum Trend mutiert. Hat es euch auch schon erwischt? Macht den Test 🙂 Ich glaube, ich schaffe mir bald einen großen „Diagnose:LADS“-Stempel an, und klatsche ihn jedem Menschen auf die Stirn, der sich dafür qualifiziert.
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„Die Liebe begeht Fahrerflucht“ – auf beziehungsweise-magazin.de
Ich habe mich ja schon immer mal gefragt, was für ein Auto ich wäre. Nicht. Doch irgendwie hat sich der Vergleich zwischen mir und einem Polo schlüssig angehört. Etwas in die Jahre gekommen und mit zu hohem Spritverbrauch. Tja, die Liebe ist manchmal wie ein Autounfall. Wir knallen aufeinander und wundern uns dann, dass der andere verbeult ist.
Keine Medizin, nur ein Placebo – ein Brief an Michael Nast
„Generation Beziehungsunfähig“ war einer der erfolgreichsten Buchtitel des Jahres 2016. Er sollte aufzeigen, warum es für die Generationen Y und Z so schwierig erscheint, feste Bindungen einzugehen. Ob das funktioniert hat?
Lieber Michael,
mehrere Wochen Bestsellerliste, über eine Million Zugriffe auf den Text „Generation Beziehungsunfähig“. Was vor einigen Monaten nur hinter vorgehaltener Hand vermutet wurde, ist nun kein Geheimnis mehr: Wir bekommen das mit der Liebe anscheinend einfach nicht hin. Du erwartest jetzt sicherlich, dass ich mit großem Tamtam widerspreche und ein Loblied auf Schmetterlinge im Bauch anstimme. Doch da muss ich dich leider enttäuschen. Auch wenn Millionen die Diagnose „Beziehungsunfähig“ breitwillig angenommen haben, hat sich nichts geändert. Die Krankheit breitet sich eher aus, als dass sie eingedämmt werden konnte. Naja, vielleicht ist doch etwas passiert. Jetzt wird sich bei aussichtslosen Dates nicht mehr über Hobbys unterhalten, sondern über den persönlichen Schweregrad der Unfähigkeitserkrankung. „Ich hatte das ja schon, bevor es der Herr Nast erfunden hat.“, höre ich die ganzen tinder-Singles sagen. Eigentlich gar nicht so schlecht, sich einfach einen Stempel aufzudrücken, der als Ausrede für alles gilt. Entschuldigt bitte, ich kann nichts dafür. Beziehungsunfähigkeit ist die neue Laktoseintoleranz. Die hatten auch erst so viele, als sie plötzlich populär wurde.
Ein Buch als Medizin für chronische Liebesunverträglichkeit?
Ich erinnere mich gerne an den Moment, als wir uns das erste Mal begegneten. Du noch eher underground, ich komplett im tinder-Sumpf versunken. Wir unterhielten uns über prollige Profilfotos, die dir so fremd erschienen. Das ist nun zwei Jahre her. Dazwischen liegen bei mir viele, viele gute und schlechte Dates, und bei dir vermutlich viele, viele Heiratsanträge, Interviewanfragen und leergeschriebene Signierstifte. Wie sehr habe ich gehofft, dass deine Diagnose die Heilung beschleunigt. Wenn ich erst einmal weiß woran ich leide, kann ich im Normalfall schließlich einfach in die Apotheke gehen, mir eine Pille einschmeißen, und gut ist. Das dachten wahrscheinlich auch die Leser von „Generation Beziehungsunfähig“. Ein magisches Buch, dessen Zeilen irgendeine Hirnwindung ansteuern, diese wieder gerade rücken, und zu einem statistisch signifikanten Anstieg der Heirats- und Geburtenrate führen würden.
„Kann Spuren von Liebe enthalten“
Ich bin ernüchtert. Mein beziehungsunfähiges Umfeld schlägt sich weiterhin die Nächte um die Ohren und ertränkt die Einsamkeit in zu viel Alkohol. Genauer betrachtet ist es sogar noch schlimmer geworden. Das Beunruhigende daran ist: sie fühlen sich, zumindest oberflächlich gesehen, wohl damit. Genauso wie sich einige Menschen über verschiedene Nahrungsmittelunverträglichkeiten definieren, scheinen sich viele auch in ihrer Beziehungsunfähigkeit gemütlich einzurichten. „Liebesunverträglichkeit“ ist anscheinend zum Trend geworden. Nur eine Frage der Zeit, bis in den Läden anstatt „mit Liebe gekocht“, “ Liebe-freie“- Produkte zu kaufen sind. „Kann Spuren von Liebe enthalten“, führt zu angeekelten Gesichtern vor dem Supermarktregal. Meine Single-Freunde werden mir nickend zustimmen wenn ich behaupte, dass allein kleine Spuren von Liebe dazu führen, dass die mit Gefühlen bedachte Person allergisch reagiert. Es fehlt nur noch, dass zukünftige Liebeleien während einer Liebeserklärung schnell in die Tasche greifen, „Generation Beziehungsunfähig“ herausholen und mit erhobenem Zeigefinger anmerken, dass sie so viele Gefühle nicht vertragen würden. „Ich bin beziehungsunfähig, das weißt du doch.“. Also jegliche Spuren von Liebe entfernen, um keinen allergischen Schock zu riskieren.
Ich will mehr love in the air
Wie soll das nur weitergehen? Müssen wir uns irgendwann an Beziehungen gewöhnen, die mit einem „Frei von Liebe“-Gütesiegel ausgezeichnet sind? Das ist doch alles Bockmist. Lass uns die Beziehungsunfähigen doch einfach aus ihrer eingebildeten, chronischen Krankheit herauszerren. Du nimmst die Arme, ich die Beine, und dann ab ins Loveboat mit den Patienten. Wenn es sein muss, beschmeiße ich die Zuschauer deiner Lesungen auch mit Herzchen-Konfetti. Es braucht endlich eine Medizin, denn „Generation Beziehungsunfähig“ ist leider nur ein Placebo. Lieber Michael, bitte lass mich nach zwei weiteren Jahren zurückblicken und sagen: Da hat sich was getan, da ist mehr love in the air.