Externe Erwartungen – Mein Lebensflieger, kurz vor dem Absturz

Dieser Text entstand im Jahr 2017 auf dem Z2X17 in Berlin. Die Session zum Thema „Overheadcompartment“ wurde von Anna Madlener geführt.

Ich glaube, ich bin abgestürzt. Mein Leben ist irgendwie außer Kontrolle geraten. Dabei habe ich nur versucht, allen Anforderungen gerecht zu werden. Habe meine Lebensziele so gesetzt, wie die Gesellschaft sie von mir erwartet. Wo meine Wünsche und Vorstellungen meines Lebensfluges Platz finden? In einem kleinen Fach, in das ich meine eigene Persönlichkeit quetschen muss, um den riesigen Erwartungen um mich herum Raum zu schaffen. Meine Vorstellung vom Leben ist sozusagen das Handgepäckstück, welches in großen Flugzeugen ins Overheadcompartment gestopft wird.

Ein MINT-Fach studieren, viele Kinder großziehen, dabei aber bitte die Rente nicht vergessen

Während ich mich zusammen mit meinen eigenen Werte in ein viel zu kleines Fach verstaue, nehmen um mich herum die Fluggäste, die Erwartungen der Außenwelt, platz. Sie drängen sich durch die Sitzreihen, um einen guten Sitz in meinem Lebens-Flieger ergattern zu können. Durch einen kleinen Spalt des Gepäckfachverschlusses sehe ich, wie sich die Reihen füllen. Ich sehe die Erwartungen meiner Eltern, nach denen ich einen festen Vollzeitjob haben sollte, für den ich so gut bezahlt werde, dass am Ende genug Rente dabei rumkommt. Ich sehe die Erwartungen des Arbeitsmarktes, nach denen ich, folgend zu meinem 1er Abitur, bestenfalls ein MINT-Fach studieren, fünf unbezahlte Praktika nebenbei absolvieren sollte und außerdem unbedingt ein Auslandssemester einschieben müsste. Auch die Bundesregierung hat eine Sitzreihe reserviert. Sie giert nach meinen Steuern, die ich schnellstmöglich einbringen sollte, trotzdem ich mindestens drei Kinder beschäftige, die mich natürlich nicht von einer Vollzeitstelle abhalten würden.  

Wie finde ich heraus, welcher der richtige Lebensweg für mich ist?

Sie alle fühlen sich an wie eine Armee, die im Gleichschritt auf mich zugestampft kommt. Mit dem erhobenen Zeigefinger diskutieren sie über mein Leben und wie ich es möglichst effektiv gestalten könnte. Ich schnappe Satzfragmente auf. “Sie muss unbedingt…”,”Wenn sie nicht…”,”Alle anderen machen auch…”. Mir wird schlecht. Zusammengekauert ziehe ich meine Beine noch ein Stückchen mehr an mich heran, um in Embryonalstellung zumindest zu versuchen, eine Winzigkeit von Geborgenheit zu erreichen. Ich spüre, wie der Druck steigt. Anscheinend sind wir schon abgeflogen. Während der Lärm der Turbinen das Gebrabbel der Fluggäste übertönt, versuche ich meine Gedanken zu fassen. Wenn der Druck von außen mich innerlich immer weiter verkümmern lässt, wie finde ich dann für mich heraus, welcher der richtige Lebensweg für mich ist? Eigentlich dachte ich, bis jetzt hätte ich die Hürden des Erwachsenwerdens gut gemeistert. Abitur, check. Studium, check. Bis dahin den Gesellschaftlichen Erwartungen konform gelebt, würde ich sagen.

Plötzlich, ein Luftloch

Studium abgebrochen, check. Plötzlich spüre ich ein Luftloch. Mein Kopf knallt an die nur wenige Zentimeter entfernte Decke des Gepäckfaches. Ich jaule auf. Die Stimmen der Flugpassagiere werden lauter. ”Hätte sie mal ihr Studium abgeschlossen…”, “Eine Ausbildung zu machen ist heutzutage doch nichts mehr wert.”, “Wie will sie eine Familie ernähren, wenn sie nicht in hohe Gehaltsklassen aufsteigen kann?”. Ich bin kurz vor dem Erbrechen. Meine Ohren dröhnen und alle Knochen schmerzen. Ich habe das Gefühl, meinen Lebensflieger gerade selbst zum Absturz zu bringen.  

Ab jetzt übernehme ich das Steuer

Kurz bevor ich mein Gepäckfach mit meinem eigenen Erbrochenen fülle, springt die Gepäckklappe auf. Die Turbulenzen haben das Innenleben des Fliegers ordentlich durcheinandergewirbelt. Ich renne im Eiltempo Richtung Bordtoilette, um die Sitzreihen nicht zu versauen. Doch kurz bevor ich die Tür aufreißen kann, fällt mein Blick auf ein großes rotes Schild, welches rechts von mir befestigt ist. “Cockpit”, steht in großen Buchstaben darauf geschrieben. Plötzlich überkommt mich aggressiver Trotz. Ich habe keine Lust mehr von meinem Lebensflugzeug durchgeschüttelt zu werden. Die Fülle an Erwartungen, die darin Platz genommen haben, sollen endlich nach meiner Nase tanzen. Ich reiße die Cockpittür auf und übernehme das Steuer.