Keine Medizin, nur ein Placebo – ein Brief an Michael Nast

„Generation Beziehungsunfähig“ war einer der erfolgreichsten Buchtitel des Jahres 2016. Er sollte aufzeigen, warum es für die Generationen Y und Z so schwierig erscheint, feste Bindungen einzugehen. Ob das funktioniert hat?

Lieber Michael,

mehrere Wochen Bestsellerliste, über eine Million Zugriffe auf den Text „Generation Beziehungsunfähig“. Was vor einigen Monaten nur hinter vorgehaltener Hand vermutet wurde, ist nun kein Geheimnis mehr: Wir bekommen das mit der Liebe anscheinend einfach nicht hin. Du erwartest jetzt sicherlich, dass ich mit großem Tamtam widerspreche und ein Loblied auf Schmetterlinge im Bauch anstimme. Doch da muss ich dich leider enttäuschen. Auch wenn Millionen die Diagnose „Beziehungsunfähig“ breitwillig angenommen haben, hat sich nichts geändert. Die Krankheit breitet sich eher aus, als dass sie eingedämmt werden konnte. Naja, vielleicht ist doch etwas passiert. Jetzt wird sich bei aussichtslosen Dates nicht mehr über Hobbys unterhalten, sondern über den persönlichen Schweregrad der Unfähigkeitserkrankung. „Ich hatte das ja schon, bevor es der Herr Nast erfunden hat.“, höre ich die ganzen tinder-Singles sagen. Eigentlich gar nicht so schlecht, sich einfach einen Stempel aufzudrücken, der als Ausrede für alles gilt. Entschuldigt bitte, ich kann nichts dafür. Beziehungsunfähigkeit ist die neue Laktoseintoleranz. Die hatten auch erst so viele, als sie plötzlich populär wurde.

Ein Buch als Medizin für chronische Liebesunverträglichkeit?

Ich erinnere mich gerne an den Moment, als wir uns das erste Mal begegneten. Du noch eher underground, ich komplett im tinder-Sumpf versunken. Wir unterhielten uns über prollige Profilfotos, die dir so fremd erschienen. Das ist nun zwei Jahre her. Dazwischen liegen bei mir viele, viele gute und schlechte Dates, und bei dir vermutlich viele, viele Heiratsanträge, Interviewanfragen und leergeschriebene Signierstifte.  Wie sehr habe ich gehofft, dass deine Diagnose die Heilung beschleunigt. Wenn ich erst einmal weiß woran ich leide, kann ich im Normalfall schließlich einfach in die Apotheke gehen, mir eine Pille einschmeißen, und gut ist. Das dachten wahrscheinlich auch die Leser von „Generation Beziehungsunfähig“. Ein magisches Buch, dessen Zeilen irgendeine Hirnwindung ansteuern, diese wieder gerade rücken, und zu einem statistisch signifikanten Anstieg der Heirats- und Geburtenrate führen würden.

„Kann Spuren von Liebe enthalten“

Ich bin ernüchtert. Mein beziehungsunfähiges Umfeld schlägt sich weiterhin die Nächte um die Ohren und ertränkt die Einsamkeit in zu viel Alkohol. Genauer betrachtet ist es sogar noch schlimmer geworden. Das Beunruhigende daran ist: sie fühlen sich, zumindest oberflächlich gesehen, wohl damit. Genauso wie sich einige Menschen über verschiedene Nahrungsmittelunverträglichkeiten definieren, scheinen sich viele auch in ihrer Beziehungsunfähigkeit gemütlich einzurichten. „Liebesunverträglichkeit“ ist anscheinend zum Trend geworden. Nur eine Frage der Zeit, bis in den Läden anstatt „mit Liebe gekocht“, “ Liebe-freie“- Produkte zu kaufen sind. „Kann Spuren von Liebe enthalten“, führt zu angeekelten Gesichtern vor dem Supermarktregal. Meine Single-Freunde werden mir nickend zustimmen wenn ich behaupte, dass allein kleine Spuren von Liebe dazu führen, dass die mit Gefühlen bedachte Person allergisch reagiert. Es fehlt nur noch, dass zukünftige Liebeleien während einer Liebeserklärung schnell in die Tasche greifen, „Generation Beziehungsunfähig“ herausholen und mit erhobenem Zeigefinger anmerken, dass sie so viele Gefühle nicht vertragen würden. „Ich bin beziehungsunfähig, das weißt du doch.“. Also jegliche Spuren von Liebe entfernen, um keinen allergischen Schock zu riskieren.

Ich will mehr love in the air

Wie soll das nur weitergehen? Müssen wir uns irgendwann an Beziehungen gewöhnen, die mit einem „Frei von Liebe“-Gütesiegel ausgezeichnet sind? Das ist doch alles Bockmist. Lass uns die Beziehungsunfähigen doch einfach aus ihrer eingebildeten, chronischen Krankheit herauszerren. Du nimmst die Arme, ich die Beine, und dann ab ins Loveboat mit den Patienten. Wenn es sein muss, beschmeiße ich die Zuschauer deiner Lesungen auch mit Herzchen-Konfetti. Es braucht endlich eine Medizin, denn „Generation Beziehungsunfähig“ ist leider nur ein Placebo. Lieber Michael, bitte lass mich nach zwei weiteren Jahren zurückblicken und sagen: Da hat sich was getan, da ist mehr love in the air.

3 Gedanken zu „Keine Medizin, nur ein Placebo – ein Brief an Michael Nast

  1. Johannes II. sagt:

    Ich habe gerade Michel Houellebecqs Roman „Die Möglichkeit einer Insel“ gelesen:

    „Wenn man individuelle Freiheit und Unabhängigkeit anstrebt, ist keine Liebe möglich, alles andere ist eine Lüge, und zwar eine der größten Lügen, die je ersonnen worden sind; Liebe ist nur dann möglich, wenn der Wunsch nach Zerstörung, nach Verschmelzung, nach individueller Selbstaufgabe vorhanden ist, und zwar in einem gewissen ‚ozeanischen Gefühl‘, wie man früher sagte, also in etwas, das es sowieso in naher Zukunft nicht mehr geben wird.“ (S. 384)

    Wow! Wenn das annähernd so wäre, sähe es nicht gut aus …

  2. Johannes sagt:

    Ich glaube nicht an „Generation Beziehungsunfähig“. Ich glaube vielmehr daran, dass die Welt sich einfach weiter gedreht hat und die Beziehungsmodelle, die wir von unseren Eltern, unseren Großeltern und aus Kitschromanen kennen, für viele Menschen unter 40 heute nicht mehr taugen.

    Nichts gegen Mama Papa + zwei Kinder, aber für mich ist das nix. Und wenn man schon soweit ist, dass das nix für einen ist, dann kann man auch gleich die klassische Zweierbeziehung in Frage stellen.

    Warum brauchen wir die überhaupt noch? Warum nicht komplexere Beziehungsgeflechte? Warum soll es ein Privileg der Singles sein, ab und zu mal jemanden abzuschleppen? Warum darf ich, wenn ich in einer Beziehung stehe, nicht noch eine Freundschaft+ haben.?Warum darf ich überhaupt nur eine Beziehung gleichzeitig haben? Warum gelten Beziehungen, die irgendwann mal auseinander gingen automatisch als „gescheitert“?

    Ich glaube, dass all die „Beziehungsunfähigen“ oder die, die sich als solche empfinden, durchaus fähig zu sehr gewinnbringenden Beziehungen wären, aber eben vielleicht nicht zu so klassischen Zweierbeziehungen, die nur als Erfolg gelten, wenn sie bis zum Tod dauern.

    Wir sollten da experimentierfreudiger sein und auch offener und ehrlicher mit unseren Wünschen umgehen und sie offener und ehrlicher kommunizieren. Ich will beispielsweise keine monogame Beziehung mehr, dass heißt nicht, dass ich gar keine Beziehung mehr möchte, im Gegenteil, ich will gleich mehrere davon (habe auch momentan zwei).

    Warum halten so viele an dem Ideal der Zweierbeziehung fest, wenn sie doch schon so oft damit „gescheitert“ sind?

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